Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus. Symposium zur Rezeption des Weberschen Klassikers in Ostasien

von SUMIYA KAZUHIKO

In das letzte Jahr fiel das hundertjährige Jubiläum des Erscheinens von Max Webers Studie „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“. Aus diesem Anlaß veranstaltete WOLFGANG SCHWENTKER am 17. und 18. 2. in Ôsaka ein Symposium.

[Illustration, nicht aufgenommen]

Die zentrale Fragestellung lautete: Wie wird Weber in Ostasien wahrgenommen, und dementsprechend wurde v. a. über die Richtung der einschlägigen Forschungen in China, Korea und Japan diskutiert. Das Spektrum der Vorträge war breit. Den Rahmen steckte etwa PETER BEAR von der Lingnan-Universität (Hongkong) ab, der zunächst allgemein Kriterien dafür erörterte, daß ein Buch zum (globalen, d. Ü.) Klassiker wird: Entscheidend sei, ob viele kulturelle Traditionen gemeinsame Momente entdecken könnten, ob viele Interpretationen zugelassen würden, ob bestimmte Leser sich auf die vertretenen Lehren als ihren alleinigen Besitz berufen könnten und ob es die Kraft zur Verbreitung über Sprachgrenzen hinweg besitze, die sich an der Zahl der Übersetzungen ablesen lasse. Ein solcher Klassiker zeichne sich weniger durch die Lösung bestimmter Probleme als durch die Universalität der aufgeworfenen Fragestellungen aus.

Südkorea ist in Ostasien zum Land mit dem größten protestantischen Bevölkerungsanteil geworden. CHON SON-U von der Hansan-Universität (Ansan) wies die Weber-These, derzufolge diese Tatsache als Hauptursache für den wirtschaftlichen Wohlstand angesehen werden dürfte, zurück und stellte die politische Genese des koreanischen Protestantismus heraus, insofern das dortige Wirtschaftsethos durch einen ansteigenden Nationalismus entstanden sei, der auf den Erfahrungen mit der Kolonialisierung und der Teilung des Landes in einen Nord- und einen Südstaat beruhe.

MATTHIAS VON GEHLEN (Universität Heidelberg) zeichnete die Geschichte der Einführung des Weberschen Denkens in China nach. Sein Hauptaugenmerk galt den zwei Seiten der Weberforschung, die sich mutatis mutandis auch in Japan nachweisen lassen: Einerseits wird die traditionale Gesellschaft nach den am Modell der westlichen Moderne entwickelten Kriterien kritisiert, andererseits werden gegenüber einer materialistischen Geschichtsauffassung die dem Kapitalismus inhärenten subjektiven Momente betont. Von Gehlen zeigt, wie man seit den achtziger Jahren, während man zur Erforschung der Ursachen des chinesischen Hochwachstums weiter die Weber-These heranzog, dabei umgekehrt einen konfuzianischen Rationalismus in den Blick nahm und schließlich zum Konzept eines „konfuzianischen Kapitalismus“ (jukyôteki shihonshugi) gelangte. Inweit dieses Konzept zustimmungsfähig ist, sei weniger wichtig als die wissenschaftliche Bedeutung, die im Aufweis einer Perspektive bestehe, die eine andere Entwicklungsmöglichkeit des Kapitalismus betrachtet als das westliche Vorbild.

YAMANOUCHI YASUSHI, Honorarprofessor an der Ferris-Frauen-Universität (Yokohama), zeigte in einem Abriß der japanischen Weberforschung, wie Marx und Weber nach dem Krieg den begrifflichen Rahmen für die Erörterung der japanischen Modernisierung lieferten. Er kritisiert, daß innerhalb dieses Rahmens allerdings niemand das Fehlen eines wichtigen Aspektes bemerkt habe: des aus nietzscheanischen Quellen gespeisten „tragischen Geistes“, der in den „hellen Möglichkeiten“ des Beginns der Moderne schon die Vorbereitung des „dunklen Endes“ wahrnimmt.

Eine Passage auf den letzten Seiten des Werkes, die Yamanouchi öfter zitiert, lautet: „für die ‚letzten Menschen‘ dieser Kulturentwicklung [könnte] das Wort zur Wahrheit werden: ‚Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben‘.“

Es wäre meiner Ansicht nach aber voreilig, Weber für die Prophezeiung einer Situation zu applaudieren, die gegenwärtig eingetreten zu sein scheint. Es ist nämlich daran zu erinnern, daß Weber, der es liebte, im Konditional zu schreiben, diese Voraussage bedingt und als letzte von dreien vorträgt. Der vorangehende Satz lautet: „Niemand weiß noch, [. . . ] ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber – wenn keins von beiden – mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-nehmen verbrämt. Dann allerdings könnte für [. . . ]“ [1]

Hundert Jahre nach dem Erscheinen des Buches wissen wir, daß die beiden ersten Prophezeiungen eingetroffen sind. Es ist allgemein bekannt, welch großen Einfluß charismatische Verkünder einer schicksalhaften Entwicklung wie Mao oder Khomeini auf die Gegenwart ausübten. Und sowohl in der islamischen Welt wie in den Vereinigten Staaten sind mächtige Wiederbelebungsversuche alter Gedanken und Ideale in Form verschiedener „Fundamentalismen“ (genrishugi) unübersehbar.

Ich kritisiere das ausschließliche und affirmative Heranziehen der dritten Prophezeiung deshalb, weil es dem Wesen der Weberschen Wissenschaft widerspricht, die nicht deontologische Regeln ableitet (hôsoku teiritsu kagaku), sondern als Realwissenschaft (genjitsu kagaku) in herausragender Weise auf die Erklärung historischer Entitäten abzielt. Darin liegt vermutlich auch die aktuelle Bedeutung der Tatsache, daß das Symposium den Blick besonders auf die Wirklichkeit Ostasiens richtete.

13. 5. 2005, S. 22 (Frank Böhling)

[Illustration, nicht aufgenommen]Sumiya Kazuhiko wurde 1925 in Kyôto geboren und lehrt historische Soziologie (shakai shisô shi) an der Rikkyô-Universität. Zu seinen Werken gehören „Abhandlungen zur historischen Struktur der Gemeinschaft“ (Kyôdôtai no shiteki kôzô ron, Yûhikaku-Verlag), „Max Weber“ (NHK Books) und „Meditationen über Japan“ (Nihon o kaerimite, Miraisha). (Prof. Sumiya trug auf dem Symposium die Schlußbetrachtung vor, d. Ü.)

Die Beiträge des Symposiums werden, wie Prof. Schwentker freundlicherweise auf Anfrage mitteilte, demnächst in englischer bzw. chinesischer Sprache in der multilingualen Online-Zeitschrift „Historiography East and West“ ( www.let.leidenuniv.nl/axelschneider/hgew/home.htm) publiziert. Eine Veröffentlichung in japanischer Sprache ist für Ende 2005 im Rahmen eines Sonderhefts der Zeitschrift „Shisô“ vorgesehen.


Anmerkungen

1
Die Zitate wurden nicht aus dem Japanischen übersetzt, sondern gegeben nach MAX WEBER: Gesammelte Politische Schriften. Potsdamer Internet-Ausgabe ( http://www.uni-potsdam.de/u/paed/pia/index.htm). Vorlage ist: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie 1, Tübingen: Mohr 61972, S. 203 f. Die Rede vom „letzten Menschen“ stellt den Bezug zu Nietzsches Kulturkritik in der Vorrede des „Zarathustra“ her.

Im letzten Heft ist uns ein peinlicher Fehler unterlaufen: In dem von Melanie Grünlinger übersetzten Artikel „Mit Soba-Nudeln für den Generationen-Zusammenhalt“ wurde versehentlich dieselbe Illustration in verschiedenen Größen und mit verschiedenen Unterschriften verwendet. Wir bitten Leserinnen und Leser und besonders die Übersetzerin für diese Verunstaltung um Verzeihung!