[Illustration, nicht aufgenommen] Ende März habe ich mich in der Tsinghua-Universität in Beijing mit einem Historiker unterhalten. Der Garten vor dem Fenster wirkte friedlich, in starkem Kontrast zu dem, worüber wir sprachen. Er könne nicht begreifen, weshalb Ministerpräsident Koizumi so hartnäckig an den Besuchen im Yasukuni-Schrein festhalte. Ich wollte von ihm wissen, inwieweit dieses Gefühl in der chinesischen Bevölkerung und insbesondere unter den chinesischen Studenten verbreitet sei. „Sehr verbreitet“, gab er zur Antwort, „fast alle, die ich kenne, denken so.“ „Wenn das so weitergeht“, fügte er hinzu, „fürchte ich, daß es noch zum Krieg kommt.“
Als ich Anfang April nach Tôkyô zurückgekehrt war, erfuhr ich am Wochende durch Zeitungs- und Fernsehberichte davon, daß es in Beijing und zahlreichen anderen chinesischen Großstädten zu antijapanischen Demonstrationen gekommen war, bei denen auch Steine geworfen geworfen wurden. Natürlich mußte ich sofort wieder an die Worte des Historikers denken, die jetzt fast wie eine Prophezeiung klangen. Diese Demonstrationen waren keineswegs überraschend und zufällig, sondern mit Notwendigkeit erfolgt. Mein chinesischer Gesprächspartner war sicher nicht der einzige chinesische Intellektuelle, der das „Yasukuni-Problem“ als Indikator des japanischen historischen Bewußtseins ansah und in der Art seiner Behandlung eine drohende Kriegsgefahr spürte. „Wenn über die Geschichte gegensätzliche Auffassungen bestehen“, hatte z. B. auch der Ehrenvorsitzende der Akademie für die Geschichte der chinesisch-japanischen Beziehungen Zheng Min geschrieben, „dann ist zu befürchten, daß es noch einmal zu einem Angriffskrieg kommt.“ [1] Stimmt es also, daß „der Gute nicht allein ist“? [2]
Beide Regierungen reagierten auf die Demonstrationen sofort und mit kühler Vernunft. Weitere Zwischenfälle wurden unterbunden und der Mai blieb bis heute friedlich. Im diplomatischen Austausch scheint die japanische Regierung Zeitungsberichten zufolge in dieser Zeit hauptsächlich das Verhalten der chinesischen Regierung angesichts der Demonstrationen problematisiert zu haben; gefordert wurde die Festnahme von Steinewerfern, die Wiedergutmachung des entstandenen Schadens (zerbrochene Fensterscheiben usw.) und Sicherheitsgarantien für die Zukunft. Das sind konkrete und realistische Forderungen. Die chinesische Regierung zeigte sich, auch wenn sie unter Hinweis auf die den Demonstrationen zugrundeliegenden Ursachen – die offiziellen Besuche im Yasukuni-Schrein und die Darstellungen in den japanischen Geschichtslehrbüchern – alle Forderungen nach einer Entschuldigung zurückwies, im Umgang mit den Demonstrationen z. B. bei der Behandlung der Steinewerfer durchaus kompromißbereit. Kurzfristig handelt es sich um eine erfolgreiche „Trennung von Politik und Wirtschaft“ (seikei bunri), aber auf lange Sicht redeten die beiden Regierungen aneinander vorbei (surechigai), und der Aufbau vertrauensvoller Beziehungen liegt noch in weiter Ferne.
Die besagte „Trennung“ ist ein Hilfsmittel, um die wirtschaftlichen Beziehungen auch ohne ein freundschaftliches politisches Verhältnis weiterzuentwickeln. Es ist offensichtlich, daß gute wirtschaftliche Beziehungen beiden Seiten große Vorteile bringen und ihr Abbruch zwar keine fatalen, aber doch sehr nachteilige Folgen zeitigen würde. Beide Seiten hatten daher Gründe, den politischen Unfrieden von den wirtschaftlichen Aktivitäten zu sondern. Langfristig dagegen ist auch für stabile wirtschaftliche Beziehungen ein gutes politisches Verhältnis die Voraussetzung. Diese dürften aber nur dann dauerhaft aufrechtzuerhalten sein, wenn sie nicht nur auf Regierungsebene gepflegt werden, sondern auch auf die Empfindungen der Bevölkerung abfärben. Das größte Hindernis dafür ist, überflüssig zu sagen, der fünfzehnjährige Krieg und die Sprachregelungen (setsudo) der politischen Klasse (seiji shakai). Auf chinesischer Seite reden sowohl die Regierung wie auch die Bevölkerung – jeder in seiner Sprache, mit diplomatischen Noten und mit gewalttätigen Demonstrationen – über das historische Bewußtsein. Die japanische Regierung muß, so meine ich, (den gemeinsamen Gegenstand) beider Sprachen verstehen.
Aber leider redeten die beiden Seiten im diplomatischen Austausch Anfang April schließlich doch aneinander vorbei („surechigai“ ni owatta). China legte die Betonung auf den Hintergrund der Demonstrationen, Japan kritisierte ihre Gewalttätigkeit. Chinas Blick hatte historische Tiefenschärfe, Japan konzentrierte die Aufmerksamkeit auf die unmittelbar zu ergreifenden Gegenmaßnahmen. Darin spiegeln sich möglicherweise auch kulturelle Unterschiede wider. Die intellektuelle Tradition Chinas richtet ihren Blick auf eine lange Geschichte mit vielen dynastischen Wechseln, in der japanischen Kultur dagegen gibt es die Tendenz, nur auf das Heute zu schauen, ein inopportunes Gestern der Vergessenheit zu überantworten (mizu ni nagashi) und ein Morgen, das sich nicht extrapolieren läßt, mit achselzuckender Unbekümmertheit abzuwarten (myônichi ni wa myônichi no kaze ga fuku, wrtl. „Der morgige Wind weht erst morgen“). Lyrischer Ausdruck dieser Tendenz ist das Haiku, aber es dürfte verwickelt werden, wenn man versuchte, dem Yasukuni-Schrein und den Geschichtslehrbüchern mit Haikus zu Leibe zu rücken.
Aber so extrem verwickelt sind die einzelnen Probleme ja gar nicht. Das Yasukuni-Problem ist dadurch lösbar, daß der Ministerpräsident seine Besuche einstellt, und wenn die revisionistischen (rekishi o minaosu) Lehrbücher nicht in der Mehrzahl der Schulen eingeführt würden, würde sich das Gift, das sie verspritzen, auch in Grenzen halten. So schwierig ist beides nicht. Nun stehen diese einzelnen Probleme aber in einer wechselseitigen Beziehung zueinander, sie sind gemeinsamer Ausdruck einer Tendenz und scheinen fast so etwas wie ein System zu bilden. Was ist das für eine Tendenz? Nun, es ist die Legitimierung und Beschönigung des fünfzehnjährigen Krieges durch die gegenwärtige japanische Gesellschaft: „Dieser Krieg war richtig“ oder jedenfalls „gar keine so schlechte Sache“. In den meisten Staaten der Welt sieht man die Dinge heute aber ganz anders. Dieses japanische „historische Bewußtsein“ bedroht nicht nur die Zukunft Chinas, sondern ganz Asiens, Japan inbegriffen.
Die Fragen, die sich an das historische Bewußtsein richten, dürfen sich nicht in die Vergangenheit verbeißen, sondern müssen auf dem Weg durch die Vergangenheit zu Fragen an die Zukunft werden. Die Haltung Nachkriegsjapans gegenüber dem fünfzehnjährigen Krieg wird häufig mit der „Vergangenheitsbewältigung“ (kakô no kappuku) Nachkriegsdeutschlands verglichen. Ich brauche das dazu Gesagte hier nicht zu wiederholen, sondern beschränke mich auf den Hinweis, daß dieser Vergleich vermutlich nicht nur in japanischen, sondern auch in chinesischen Köpfen unablässig präsent ist. Die Geschichte des Krieges ist japanische, zugleich aber auch chinesische Geschichte. Die Auffassung, historisches Bewußtsein sei ein innenpolitisches Problem, in das sich das Ausland nicht einmischen dürfe, ist absurd. Da der Yasukuni-Schrein nicht nur die Verehrung der im Krieg gefallenen Militärs und Militärangehörigen betreibt, sondern dadurch auch eine Deutung des Krieges – eine Deutung, die seit der Vorkriegszeit im Wesentlichen unverändert geblieben ist – vorlegt, sind die Besuche des Ministerpräsidenten auch international von Bedeutung.
Ich habe im Krieg zwei Freunde verloren. Mein ganzes Leben seither hat der Gedanke begleitet, daß es nicht den geringsten Grund für eine Rechtfertigung ihres Todes und meines Überlebens gibt. Auch wenn ich nicht so weit gehen will zu behaupten, ich hätte so gelebt, wie sie es gewünscht hätten, wenn sie am Leben geblieben wären, habe ich sie doch wenigstens nie dadurch verraten, daß ich mir etwas gewünscht hätte, von dem ich weiß, daß sie es abgelehnt hätten. Das ist meine Art, um sie zu trauern. Es gab für mich nie die Notwendigkeit, den Yasukuni-Schrein zu besuchen. Aber es gab Gründe, sich der Tatsache zu widersetzen, daß der Staat Menschen dadurch tötet, daß er sie an die Front schickt oder durch Richter zum Tode verurteilen läßt. Der Tod stellt keinerlei Bedingungen und ist in diesem Sinne gewissermaßen unparteiisch. Er kennt keine Unterschiede nach Besitz, Intelligenz, gefühlsmäßigen Vorlieben oder Staatsangehörigkeiten. Die politische Instrumentalisierung der Toten schändet sie.
24. 5. 2005, S. 22 (Frank Böhling)
„Surechigai“ no hate ni erschien in der Kolumne „Närrische Gedanken am Abend“.
Anmerkungen