Tôkyô. Mitten im jungen Grün der Tama-Hügelkette sitzen zwei Personen in Ainu-Kleidung vor einem Feuer. Es gehört auch zu den Hochzeitsbräuchen, frischen ungeklärten Sake in Anwesenheit der Göttern zu genießen und eine voll gehäufte Schale Reis zu essen.
Um den Mund der Braut ist der sinuye zu sehen, das Zeichen der erwachsenen Frau. Nach einem Brauch, der von der Meiji-Regierung verboten wurde, war der sinuye ursprünglich eine Tätowierung. [1] Hier hat man statt dessen schwarzen Lippenstift benutzt.
[Illustration, nicht aufgenommen]
Ich bin als älteste Tochter eines Ainu und einer Japanerin auf Hokkaidô in Obihiro aufgewachsen. Ich kann mich nicht erinnern, unter offener Diskriminierung gelitten zu haben, aber in der Schule habe ich mit der Enthüllung meiner Herkunft gezögert.
Die entscheidende Wende während der Oberschulzeit kam, als ich an einem Austausch mit kanadischen Ureinwohnern teilnahm. Ich bekam einen Schock bei ihrem Anblick, sie waren sich ihrer Herkunft sehr genau bewußt und hatten den Namen ihres Stammes auf den Arm tätowiert.
Den Wunsch, irgendwann auch so selbstbewußt zu sein, habe ich durch den Ansporn meines Bräutigams Ronny verwirklicht, er ist Amerikaner, und wir haben uns vor zwei Jahren kennengelernt. Seine Mutter gehört der chinesischen Minderheit in Japan an, darum ist auch er empfänglich für Mißstände in der Gesellschaft. „Man sollte seine eigenen Gefühle so zeigen, wie sie sind. Wir werden die engen Wertvorstellungen auf der Welt durch unsere Kraft erweitern.“ Mit diesen Worten hat er mir den Rücken gestärkt.
Während meiner Zeit an der Universität begegnete ich Frauen, die als ‚Trostfrauen‘ [2] der alten japanischen Armee mißbraucht wurden. „Ich bin einerseits eine unterdrückte Ainu, andererseits bin ich aber auch den Japanern zugehörig, die diese Frauen auch heute noch quälen.“ So bin ich Vertreterin der in Tôkyô stattfindenden Zeugenaussagentreffen geworden.
Für die Hochzeit ist ein alter Freund meines verstorbenen Vaters aus Sapporo herbeigeeilt, um das Amt des Priesters [3] zu übernehmen. Aber ich habe fast gar nichts von der Ansprache der Zeremonie verstanden. Dieses Frühjahr habe ich die Universität abgeschlossen und angefangen die Sprache der Ainu zu lernen.
30.04.2005, S. 2 (Merle Walter, Freie Universität Berlin)
Anmerkungen