Leute. Eine Hochzeit ganz nach den Gebräuchen der Ainu

Von TANAKA YôICHI

• Frau Mina Sakai (22 Jahre) berichtet:

Tôkyô. Mitten im jungen Grün der Tama-Hügelkette sitzen zwei Personen in Ainu-Kleidung vor einem Feuer. Es gehört auch zu den Hochzeitsbräuchen, frischen ungeklärten Sake in Anwesenheit der Göttern zu genießen und eine voll gehäufte Schale Reis zu essen.

Um den Mund der Braut ist der sinuye zu sehen, das Zeichen der erwachsenen Frau. Nach einem Brauch, der von der Meiji-Regierung verboten wurde, war der sinuye ursprünglich eine Tätowierung. [1] Hier hat man statt dessen schwarzen Lippenstift benutzt.

[Illustration, nicht aufgenommen]

Ich bin als älteste Tochter eines Ainu und einer Japanerin auf Hokkaidô in Obihiro aufgewachsen. Ich kann mich nicht erinnern, unter offener Diskriminierung gelitten zu haben, aber in der Schule habe ich mit der Enthüllung meiner Herkunft gezögert.

Die entscheidende Wende während der Oberschulzeit kam, als ich an einem Austausch mit kanadischen Ureinwohnern teilnahm. Ich bekam einen Schock bei ihrem Anblick, sie waren sich ihrer Herkunft sehr genau bewußt und hatten den Namen ihres Stammes auf den Arm tätowiert.

Den Wunsch, irgendwann auch so selbstbewußt zu sein, habe ich durch den Ansporn meines Bräutigams Ronny verwirklicht, er ist Amerikaner, und wir haben uns vor zwei Jahren kennengelernt. Seine Mutter gehört der chinesischen Minderheit in Japan an, darum ist auch er empfänglich für Mißstände in der Gesellschaft. „Man sollte seine eigenen Gefühle so zeigen, wie sie sind. Wir werden die engen Wertvorstellungen auf der Welt durch unsere Kraft erweitern.“ Mit diesen Worten hat er mir den Rücken gestärkt.

Während meiner Zeit an der Universität begegnete ich Frauen, die als ‚Trostfrauen‘ [2] der alten japanischen Armee mißbraucht wurden. „Ich bin einerseits eine unterdrückte Ainu, andererseits bin ich aber auch den Japanern zugehörig, die diese Frauen auch heute noch quälen.“ So bin ich Vertreterin der in Tôkyô stattfindenden Zeugenaussagentreffen geworden.

Für die Hochzeit ist ein alter Freund meines verstorbenen Vaters aus Sapporo herbeigeeilt, um das Amt des Priesters [3] zu übernehmen. Aber ich habe fast gar nichts von der Ansprache der Zeremonie verstanden. Dieses Frühjahr habe ich die Universität abgeschlossen und angefangen die Sprache der Ainu zu lernen.

30.04.2005, S. 2 (Merle Walter, Freie Universität Berlin)


Anmerkungen

1
Man begann traditionell Mädchen im Alter zwischen 13-14 Jahren an Händen, Armen und im Gesicht zu tätowieren. Die letzte Tätowierung war die um den Mund herum im Alter von 15-16 Jahren. Mit der Vollendung dieser Tätowierung galten junge Frauen als heiratsfähig. Ohne Tätowierungen zu heiraten galt als eine der größten Sünden, und es wurde geglaubt, daß man dann nach dem Tod direkt in die Hölle kommen würde.
2
Als „Trostfrauen“ werden die Frauen bezeichnet, die als Zwangsprostituierte von der japanischen Armee während des Krieges mißbraucht wurden.
3
Die religiösen Bräuche der Ainu sind denen des japanischen Shintôismus sehr ähnlich.