In letzter Zeit sieht man in Tôkyôs Bürovierteln immer häufiger Männer und Frauen zur Arbeit radeln (jitensha tsûkin). Die meisten scheinen aus Sorge um ihre Gesundheit damit begonnen zu haben. Immer mehr Kommunen und Unternehmen zahlen dafür Zulagen (teate). Wollen nicht auch Sie es jetzt, im Wonnemonat Mai, einmal damit versuchen?
[Illustration, nicht aufgenommen]
Um 7 Uhr dreißig trifft Koizumi Hiroshi (41), Präsident einer Firma für Finanzinformationen, an seinem Arbeitsplatz im Tokyoter Bezirk Mitte in der Nähe vom Bahnhof Tôkyô ein. Als er, im Anzug und mit Krawatte, sein Tourenrad (rôdo jitensha) abstellt, erzählt er uns, daß er inzwischen, obwohl er nur 10 Minuten von zu Hause unterwegs ist, wieder ein hautnahes Gefühl für den Wechsel der Jahreszeiten und den urbanen Zusammenhang bekommen habe.
Koizumi ist der Chef des im September 2002 gegründeten Unternehmens und zugleich für die Computer zuständig. Wenn das System abgestürzt ist, muß er schnellstmöglich in die Firma. Da es ihn genervt hat, daß in der U-Bahn sein Handy nicht funktioniert, hat er es zunächst mit einem Motorroller (sukûtâ) versucht, aber nach einem halben Jahr stieg er aufgrund von Verschleißerscheinungen durch Bewegungsmangel (undô fusoku kaishô) aufs Fahrrad um. Er äußerte sich so begeistert über die gesundheitlichen Folgen, daß zwei Angestellte es ihm inzwischen nachgemacht haben. In der Gegend, in der sie arbeiten, kämen sie damit schneller als mit dem Taxi voran.
Tanaka Mari (38) fährt seit dem letzten September jeden Tag die neun Kilometer von Nakano in ihre Mittelschule in Nerima (beides Tokyoter Bezirke). In den sechs Jahren, die sie in den Vereinigten Staaten gelebt hatte, hatte sie sich angewöhnt, regelmäßig im Sportstudio (jimu) zu trainieren und spazieren zu gehen, und hatte das auch nach ihrer Rückkehr in die Heimat fortsetzen wollen, aber sie ist jemand, die ein Ziel braucht, um bei der Sache zu bleiben. Dann hatte sie den Einfall, mit dem Fahrrad zu pendeln. „Wenn ich zur Arbeit fahre, würde ich durchhalten können, dachte ich mir.“
Aus Angst vor einem Unfall war ihr Mann zunächst dagegen. Erst begann sie mit einem altmodischen Damenfahrrad (mamachari), aber in diesem Jahr kaufte sie sich ein Tourenrad, auf dem sie jetzt mit reflektierenden Radlerhosen (laser yô pantsu) durch die Stadt flitzt. „An den Tagen, wo ich fahrradfahre, komme ich auch auf der Treppe nicht aus der Puste. Ich spüre dann, wie mein Körper gearbeitet hat (karada ga shimatte kita kanji).“
Kawanishi Keisuke, Herausgeber von „Bicycle Nabi“, bestätigt die Zunahme der Fahrradpendlerinnen und -pendler. Besonders zwischen 30 und 40 begännen viele damit, nachdem sie Verschleißerscheinungen durch Bewegungsmangel verspüren und etwas für ihre Gesundheit tun wollen. „Wenn ich mir auf dem Weg zur Arbeit Bewegung verschaffen kann, schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe (isseki nichô)“, dächten viele. Auch der Verkauf von stadttauglichen Sporträdern habe zugenommen.
Fahrradtaschen, die seit April bei Takashimaya Tôkyô feilgeboten worden waren, seien so gut angekommen, daß in kurzer Zeit fast alle ausverkauft waren. Sie haben vorn einen leicht auf- und zugehenden Reißverschluß (fasunâ) und werden mit Riemen in T-Form so eng an den Körper geschnallt, daß sie auch bei waghalsigen Manövern nicht verrutschen.
Hikita Satoshi (38), Verfasser des Buchs Jitensha tsûkinisuto („Fahrradpendler“) und Direktor eines Fernsehsenders, zählt vier Vorteile derer auf, die mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren: sie tun etwas für ihre Gesundheit; brauchen sich nicht in vollbesetzte Züge zu quetschen; sparen Geld für Benzin oder Fahrkarten; und lernen ihre Umgebung in ganz neuer Weise kennen. Darüber hinaus bringen sie durch die Schonung der Umwelt und die Verminderung des Verkehrsaufkommens auch der Gesellschaft Vorteile. Das Fahrradfahren sollte sich seiner Ansicht nach in der Gesellschaft insgesamt verbreiten.
Das Fahren könne beträchtlich erleichtert werden, wenn man den Sattel relativ hoch stelle (da die Beine bei niedrigem Sattel schlechter Kraft aufwenden können), die Reifen straff aufpumpe und die Kette gut öle. Ferner rät er dazu, einen Helm aufzusetzen und das Fahrrad an Regentagen stehenzulassen.
Auch an die Folgen möglicher Unfälle sollte man denken. Die Anerkennung als Arbeitsunfall (rôsai) ist, so der Anwalt Toi Hiroshi, normalerweise kein Problem, sofern man „in vernünftiger Weise auf vernünftigen Straßen“ (gôriteki na keiro to gôriteki na hôhô de) fahre. Probleme könnten sich allenfalls ergeben, wenn die Entfernungen oder die Anzahl der angefahrenen Arbeitsstätten zu groß oder die Fahrtwege keine ordentlichen Straßen (yorimichi) seien. Außerdem gebe es auch Fahrradversicherungen. Man könne z. B. der Vereinigung der Sportfahrradfahrer Japans (Nihon saikuru supôtsu kyôkai, Tel. 06 6951 1573) beitreten und eine ermäßigte Versicherung abschließen, die nicht nur die eigenen, sondern auch die des anderen Unfallbeteiligten abdecke. Der Jahresbeitrag belaufe sich auf 4.000 ¥.
Auch manche Kommunen und Unternehmen unterstützen Angestellte, die mit dem Fahrrad zur Arbeit kommen.
Das Ministerium für Landesplanung und Verkehr benannte 19 „Großstädte, die in vorbildlicher Weise eine für den Einsatz von Fahrrädern geeignete Umwelt geschaffen haben“ (jitensha riyô yô kankyô seibi moderu toshi), und setzt sich für die Anlegung von Fahrradabstellplätzen (chûrinjô) und Fahrradwegen ein.
Seit 2001 wurde in Nagoya, einer der Musterstädte, der nach Entfernung gestaffelte Höchstsatz der Fahrradpendlerzulage verdoppelt und auf der anderen Seite die Zulage für Pendler, die mit dem eigenen Wagen (mai kâ) kommen, halbiert. Von 2000 bis 2003 ist ihre Zahl um ein Viertel zurückgegangen, die der Fahrradpendler dagegen um die Hälfte gestiegen. Auch auf städtischen, stark frequentierten Fußgängerwegen sorgen immer häufiger Bepflanzungen und farbliche Markierungen dafür, daß sich Fußgänger und Radfahrer nicht ins Gehege kommen.
In Ômi (damals noch Yôkaichi, Präf. Shiga) wurde 1997 das Kyôto-Protokoll zum Anlaß genommen, zur Förderung des Fahrradverkehrs in jedem Monat einen Tag zum „Tag der Fahrradpendler“ (jitensha tsûkin no hi) zu erklären.
30 % der Angestellten des Fahrradteileherstellers Shimano (Stammsitz Ôsaka) kommen mit dem Fahrrad zur Arbeit. Die monatliche Zulage reicht je nach Art des Fahrrads von 2.600 bis 5.000 ¥. Auf den bewachten Abstellplätzen stehen regelmäßig über 300 Fahrräder. Über den Plätzen wurden Waschanlagen (furo) eingerichtet, in denen sich viele frisch machen, bevor sie in den Büros an ihr Tagewerk gehen.
Im Sumoto-Büro von Sanyô Electric (Präf. Hyôgo) hat sich die Zahl der Angestellten, die mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, auf 230 verdoppelt, seit im Jahr 2003 auf dem Dach ein Fahrradabstellplatz eingerichtet wurde, das das Einstellen und Herausholen der Fahrräder durch eine elektronische, mit Sonnenenergie betriebene Anlage erleichtert.
13. 5. 2005, S. 19 (Frank Böhling)