Das Ausmaß, in dem sich die Katastrophe (sanka) ausweitet, ist beispiellos. Auch noch zehn Tage nach dem Riesenerdbeben vor der Küste der indonesischen Insel Sumatra und den anschließenden Riesen-Flutwellen (dai tsunami) steigt die Zahl der Opfer weiter an. Inzwischen sind in zwölf Ländern mit Küsten zum Indischen Ozean über 150.000 Menschen ums Leben gekommen, möglicherweise mehrere Millionen wurden verletzt oder haben ihr Obdach verloren. Die meisten der nacheinander getroffenen Länder sind Entwicklungsländer (hatten tojô koku) ohne ausreichende finanzielle Mittel für Vorkehrungen gegen Erdbeben und Flutwellen. Für manche Regionen wie die Provinz Aceh in Nordsumatra vergrößert die Katastrophe vorangegangenes Leid. In Feriengebieten verloren auch zahlreiche Touristen aus Japan und westlichen Ländern ihr Leben.
Den Menschen, die mit Mühe der Katastrophe entronnen sind, müssen jetzt dringend die Mittel zur Verfügung gestellt werden, mit denen sie ihr Leben wieder in den Griff bekommen können. Nach UN-Angaben ist die Gesamtzahl der Personen, die umgehend Nahrungsmittelhilfen benötigen, auf 1,8 Mio. gestiegen, und 5 Millionen Menschen sind obdachlos geworden. Vor Ort haben Hilfsteams der UN, aus westlichen Ländern, Japan und China ihre Arbeit aufgenommen.
Allerdings wird berichtet, daß in vielen Fällen Lieferungen aus unterschiedlichen Gründen ihr Ziel nicht erreichen. In Aceh, wo seit den siebziger Jahren eine bewaffnete Unabhängigkeitsbewegung aktiv ist und alle Waffenstillstandsvereinbarungen gebrochen wurden, herrscht Bürgerkrieg. Hier hat das Erdbeben darüber hinaus das Verkehrsnetz unterbrochen, so daß den Helfern die Anreise zu Wasser wie zu Land schwer fällt. Auch auf Sri Lanka sind im Ostteil, wo die Flutwellen gewütet haben, die Wunden des Bürgerkriegs kaum vernarbt, so daß viele Dörfer die Hilfgüter nicht erreichen. Wer in der jetzigen Situation die Hilfe verzögt, fügt dadurch allen beteiligten Parteien Schaden zu.
Überall im Katastrophengebiet ist es so heiß wie in Japan im Hochsommer. Unbestattete Leichen haben zu einer Verseuchung der Brunnen geführt. Die hygienischen Bedingungen verschlechtern sich rapide. Diarrhoe greift um sich, man befürchtet den Ausbruch von Cholera und Ruhr. Die Bereit- und rasche Zustellung sauberen Trinkwassers und von Medikamenten ist zur dringlichen Aufgabe geworden.
Wird die Hilfe noch rechtzeitig kommen? Die Antwort auf diese Frage entscheidet über Leben oder Tod von mehreren Zehntausend Menschen.
Für eine Beschleunigung der Rettungs- und Wiederaufbaunahmen ist die Hilfe der internationalen Gesellschaft gefragt. Um die gewaltigen Finanzmittel aufzubringen und effektiv einzusetzen, sind die Vereinten Nationen und Absprachen zwischen den hilfeleistenden Ländern unabdingbar. Hierin liegt die Bedeutung des Notgipfels aller sowohl von der Katastrophe getroffenen wie Hilfe leistenden Länder, der morgen in Jakarta stattfindet. Es ist außergewöhnlich selten, daß sich wegen einer Naturkatastrophe so viele hochrangige Vertreter Asiens und der Welt, darunter Ministerpräsident Koizumi, US-Außenminister Powell, der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao, Repräsentanten der Europäischen Union sowie UN-Generalsekretär Annan, an einem Ort versammeln.
UN-Berechnungen zufolge haben etwa 40 Länder ca. 2 Mrd. Dollar Soforthilfe zugesagt. Auch das ist für die internationale Hilfe bei einer einzigen Naturkatastrophe beispiellos. Annan hat zurecht darauf hingewiesen, daß außer der unmittelbaren Hilfe für einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren für die Wiederherstellung der Infrastruktur und den Wiederaufbau insgesamt Sorge getragen werden muß.
Erdbeben und Flutwellen haben nicht nur Menschenleben gekostet, sondern auch Wirtschaft und Produktion in ihren Grundfesten erschüttert. Verzögert sich der Wiederaufstieg, dann steht zu befürchten, daß sowieso schon instabile Länder und Regionen in eine noch schwierigere Lage geraten, was neue Bürgerkriege und neuen Terror heraufbeschwören würde.
Die Vereinten Nationen und die reichen Länder (senshin shokoku) sind aufgefordert, für die betroffenen Gebiete eine langfristige Hilfe zu organisieren. Der Wiederaufbau Afghanistans unter der Führung der UN kann dafür als Vorbild dienen.
Japan hat diesmal die Rettungsmaßnahmen zügig in Angriff genommen. Die Regierung entsandte medizinische Teams nach Indonesien, Sri Lanka, auf die Malediven und nach Thailand. Auch Zelte, Decken und Geräte zur Wasseraufbereitung wurden auf den Weg gebracht. Ein Geleitschiff (goeikan) der SVS, das sich zufällig im Indischen Ozean auf dem Heimweg befand, wurde nach Phuket umgeleitet, um dort Leichen zu bergen. Peace Winds Japan, die Gesellschaft für Flüchtlingshilfe (Nanmin o tasukeru kai, Association für Relief and Supply) und andere Nichtregierungsorganisationen sind ebenfalls zur Stelle.
Der Ministerpräsident wird auf dem Jakarta-Gipfel die kompensationslose Bereitstellung von 500 Mio. Dollar an die betroffenen Länder und an internationale Organisationen zusagen. Das ist ein Viertel der insgesamt aufgebrachten Summe und mehr, als sonst irgend ein Land, die USA inbegriffen, zur Verfügung stellt.
Japan wird häufig von Erdbeben und Flutwellen heimgesucht und hat daher leider große Erfahrung im Umgang mit solchen Naturkatastrophen. Deshalb nimmt es nicht nur hinsichtlich der finanziellen Hilfe, sondern auch bei der wissenschaftlichen Erforschung ihrer Ursachen und ihrer administrativen Bewältigung weltweit eine Spitzenstellung ein. Zudem muß es sich den betroffenen Ländern gegenüber als „ein Mitglied Asiens“ („Ajia no ichiin“) verhalten. Es wäre daher zu wünschen, daß Japan die internationale Gemeinschaft beim Jakarta-Gipfel und den anschließenden Wiederaufbau-Maßnahmen mit nach vorne zieht (hippate iku).
Die Kluft zwischen den USA und Europa in Bezug auf den Irak bleibt nicht ohne Einfluß auf die Art und Weise, wie die Tsunami-Schäden beseitigt werden. Trotzdem sollten sich diesmal wirklich alle Länder um die Vereinten Nationen scharen und gemeinsam voranschreiten. Koizumis Aufgabe besteht auch darin, in diesem Sinne auf Amerika einzuwirken.
Im Englischen hat sich schon der Ausdruck „Asian Tsunami“ eingebürgert, unter dem das Ereignis wohl auch in die Geschichte eingehen wird. Was vermag Asien gegenüber Asien? Und was vermag Japan? Das ist es, was jetzt einem Test unterzogen wird
5. 1. 2004, S. 3 (Frank Böhling)